Fassungslos starrte er sie an. So mancher mochte schön finden, was sich da viel zu nah vor seinen Augen elegant ringelte, mancher mochte die klare Zeichnung ihrer Haut bewundern, aber er – er sah nur schwarz, sah eine endlose Aneinanderreihung schwarzer Kreuze, er sah: die Schlange. Gerade eben hatte Tobias sich noch vorgestellt, wie er bereits in drei Tagen mit Tonia hier stehen und sie nach dem Baden küssen würde, ihr kühler Körper warm in seinen Armen. Das war die perfekte Kulisse für einen ersten Kuss: hier auf dem Bootssteg am Torskabotten, wo er zig Schwedensommer seiner Kindheit verbracht hatte auf dem Seegrundstück der Edelmanns. Tonia und er würden Zukunftspläne schmieden und ihr Glück würde sich im Wasser spiegeln, das in der milden Abendsonne glänzte… Wie cool das doch war, dass er seine übliche Schüchternheit überwunden und Tonia einfach gefragt hatte, ob sie nach ihrer Summer School in Göteborg hierher kommen und ein paar Tage mit ihm am See verbringen wolle…? Er kenne sich hier aus. Das stimmte zwar, aber es war das erste Mal, dass er alleine hier war – seit seinem letzten Urlaub mit den Eltern vor sieben Jahren hatte es ihn nicht mehr nach Schweden gezogen. Verändert hatte sich hier nichts. Trotz der Bedenken seines Vaters hatte er es locker geschafft, das kleine Stotterboot anzuwerfen und seine Sachen von der Anlegestelle am Parkplatz hier herüber zu bringen zum Häuschen mitten im Wald und direkt am See. Nichts und niemand würde sie hier stören – nichts außer dieser Schlange, vor der er jetzt leise und langsam zurückwich. War das eine Kreuzotter? Das musste er unbedingt googeln. Er musste rausfinden, ob diese gewundene Kreatur da auf den Steinen vor dem Steg nur unangenehm oder tatsächlich gefährlich war – auf keinen Fall wollte er sich vor Tonia blamieren, die im achten Semester Zoologie studierte. Sein Handy lag oben im Häuschen – aber verdammt, er hatte ja kein Netz! Der Empfang hier im Wald war unglaublich schlecht, aber im Grunde konnte er sich ja gerade die totale Abgeschiedenheit am Torskabotten mit Tonia! auf einmal wieder vorstellen… Mit siebzehn hatte ihn dieses Abgeschnittensein von allem nur genervt, weil er es als Weltfremdheit missverstanden hatte. Das war heute anders. Seine Eltern fanden, dass er auf einmal sehr erwachsen geworden sei, seit er die letzte Prüfung seines Informatikstudiums abgelegt hatte. Seine Mutter hatte dann auch die Edelmanns bequatscht, ihn ruhig alleine hierherkommen zu lassen nach dem ganzen Stress, den Urlaub habe er sich redlich verdient und er kenne sich ja mit allem aus, auch wenn das mit der Wasserleitung vom See her immer ein wenig diffizil war… Ja, er kannte sich mit allem hier aus, außer mit Biestern wie dieser Kreuzotter da vorne! Zig Sommer lang war er in Gummistiefeln durch die Wälder hier gezogen und seine Eltern hatten ihm eingeschärft, immer kräftig aufzutreten, weil es Kreuzottern geben könne, aber nie im Leben war er leibhaftig einer begegnet. Man müsse trampeln, hieß es, weil Kreuzottern durch die Erschütterung erschräken und sich dann von sich aus davonmachten, nur barfuß auf sie treten, nein, das sei nicht ratsam – Tobias sah betroffen auf die nackten Füße in seinen Badeschlappen und wich weiter zurück, trat rückwärts hinunter vom Bootssteg auf den weichen Waldboden, wo er sich etwas sicherer fühlte, eine volle Steglänge zwischen ihm und dem Ungetier. Er trampelte wie verrückt, aber es war lächerlich, was auf dem durch Lagen von Kiefernnadeln bestens gedämpften Untergrund dabei heraus kam. Von hier aus sah er sowieso nicht, ob er die Kreuzotter in irgendeiner Weise beeindruckte, und er hatte ganz bestimmt nicht das Bedürfnis, nochmal in Badeschlappen nach ihr zu sehen. Fünf Minuten später stand er in Gummistiefeln und Trekkinghose wieder vor dem Bootssteg und war den ganzen Weg vom Häuschen herunter getrampelt, was das Zeug hielt. Vorsichtig trat er auf die Holzplanken, nur um sich im nächsten Moment wieder daran zu erinnern, dass er stampfen musste – ihm war eher nach anschleichen. Jede Schlange, die keine harmlose Blindschleiche war, war sein Feind. Verdammt, saß er da einem Mythos auf? Konnte man friedlich koexistieren mit diesem Abschaum der Schöpfung? Er hörte sein Herz heftig klopfen, als er leise an das seeseitige Ende des Bootsstegs trat und die Augen suchend über die Steine gleiten ließ. Soviel er auch scannte: die Schlange war weg. Merkwürdigerweise beunruhigte es ihn fast mehr, nicht zu wissen, wo die Schlange war, als sie auf ihrem vorigen sonnengewärmten Platz zu sehen. Wenn sie hier nicht war, konnte sie überall sein. Eigentlich hatte er sich noch eine Runde in den See werfen wollen an seinem ersten Abend hier – konnten Kreuzottern eigentlich schwimmen? Schaudernd und widerwillig trat er den Rückzug an – da hörte er mit seinem inneren Ohr, wie Tonia lachte. Kein rechter Kerl rannte davon vor etwas, das seiner Schätzung nach keine achtzig Zentimeter lang sein konnte. Was erwartete Tonia von ihm, wenn sie so lachte? Dass er sich männlich zeigte und sie beschützte, indem er die Schlange ohne großes Aufhebens beseitigte? Mann, er kannte Tonia ja überhaupt nicht! Womöglich standen diese Kreuzottern unter Naturschutz und man durfte sie gar nicht töten – mit einer eingefleischten Tierfreundin konnte er da Ärger bekommen. Andererseits konnte er sich keine junge Frau vorstellen, die ihren badplats gern mit einer giftigen Schlange teilte. Was nun? Es dämmerte schon und er war furchtbar müde nach der langen Reise. Eine halbe Stunde später fiel er ins Bett, die Außendusche hatte er gemieden und sich am Waschbecken drin nur notdürftig gewaschen. Er träumte – natürlich! – von Schlangen.
Am nächsten Morgen sah die Welt ganz anders aus. Tobias frühstückte ausgiebig auf der Veranda über dem See und stellte sich wie in seiner Kindheit vor, wie es wäre, wenn jetzt ein Elch vorbeikommen würde… Nach der Kreuzotter gestern würde ihn nichts mehr wundern! Er konnte schon wieder schmunzeln und das Wetter war so herrlich, dass er am späten Vormittag in Badehose und Gummistiefeln zum Steg runter ging und wild entschlossen war, sich von keiner Schlange der Welt vom Schwimmen abhalten zu lassen. Sie war nicht da. Dabei hatte er gar nicht mal so laut getrampelt… Die Szene von gestern kam ihm jetzt vor wie ein Spuk, den er sich auch eingebildet haben konnte. Er prustete, plantschte und schwamm, hievte sich am Steg aus dem Wasser und angelte nach seinem Handtuch auf einem überhängenden Ast – da lag die Kreuzotter wieder träge auf ihrem angestammten Stein und das Adrenalin war zurück. Er, der sonst total stressresistent an den kompliziertesten Programmen tüftelte, er drehte hier völlig am Rad und es fiel ihm beim besten Willen kein Algorithmus und kein Gesetz ein, nach dem man so eine nichtsnutzige Schlange loswerden konnte. Noch halb nass schlüpfte er in die schützenden Stiefel und wickelte das Handtuch fest um sich, bevor er sich auf einen großen Felsbrocken setzte und anfing, die Schlange zu beobachten.
Stunden später saß er immer noch da. Die Kreuzotter hatte sich kaum geregt, hatte sich nur ab und zu ein wenig geräkelt wie ein Wesen, das hier seinen Platz hatte, während er sich fühlte wie ein Eindringling. Und trotzdem – die ruinierte die ganze Idylle hier! Zum Teufel mit der Zoologie – schließlich wollte er mit Tonia keine Schlangen beobachten, sondern romantische Stunden verbringen und sehen, was sich daraus entwickelte… – ganz bestimmt wollte er dabei nicht auf eine Kreuzotter achten müssen, auf die man aus Versehen treten konnte! Immer wieder kam er zu dem Schluss, dass er das rauhäutige Scheusal eben doch um die Ecke bringen musste, bevor Tonia kam. Längst hatte er zwei faustgroße Steine in seinen Händen, die er drehte und wendete. Immer wieder musste er dann aber denken, dass er ja gar nicht wusste, wieviele Artgenossen dieser Kreuzotter noch irgendwo lauerten. Was immer er täte, er würde Tonia nie so frei und unbefangen gegenüberstehen, wie er das gestern bei seiner Ankunft im Spiegel des Wassers schon gesehen zu haben meinte. Es half nichts: Er musste Tonia sagen, was Sache war, und es wäre dann wohl besser, er hätte keine Kreuzotter erschlagen. Vielleicht wusste Tonia, was zu tun war, schließlich kannte sie sich mit solchen Viechern aus, die so gerne wohlig in der Sonne lagen. Sie kannte sich aus, und er war bedürftig und nackt – ganz dringend bedurfte er einer Lösung in einer Sache, die ihn restlos überforderte. Nein, das war kein guter Ausgangspunkt. Tonia würde durchschauen, was für ein Schwächling er war, und sich frustriert von ihm und seiner Unsicherheit abwenden. Nichts würde er ihr sagen, rein gar nichts, und wenn sie sich am Ende auf dem Steg liebten und dabei gebissen würden, dann avancierte er wenigstens vom Nerd zum tragischen Liebhaber… – so weit war er schon, dass er so einen Schwachsinn dachte. Hörst du das, du vermaledeites Biest?!? Aber die Kreuzotter ließ nicht mit sich verhandeln und sich auch sonst nicht vertreiben durch irgendeine Kraft des Geistes. Endlich stand Tobias auf und sah von der Schlange weg auf das Wasser, das sich im Wind kräuselte und in beruhigend regelmäßigen Abständen ans Ufer lappte. Er sah sich. Er sah den, der töten konnte, und er sah den, der lieber getötet würde, als auch nur einer Fliege was zuleid zu tun. Er sah Tonia, die ihn verlachte, und Tonia, die ihn verstand, seine Hand nahm und den Weg hoch führte…
Dann warf er den ersten Stein.
(2018)
In: Peter Schaden (Hrsg.), wasser.spiegel – Anthologie (Verlag Edition FZA, 2018). ISBN 978-3-903104-08-2
Diese Anthologie ist bestellbar unter: https://www.editionfza.at/index.php/edition-liberty