Mein Lehnstuhl knarrt. Mein Haar ist weiß. Vielleicht ist es auch grau und strähnig. Ich weiß das nicht – schon lange schau ich nicht mehr in den Spiegel. Meine verknorpelten Finger zittern, als sie den Schlüssel ins Schloss stecken und die alte Schatzkiste öffnen. Die hat mein Bruder mir geschreinert, als ich klein war. Da fühl und riech und seh ich meinen abgewetzten alten Teddy, Able – „he makes life bear-able“, sagte mein Vater immer. Dann war der Vater weg. Der Bär ist noch da. Darunter: Briefe. Die schrieb die Mutter an den Vater, schrieb der Vater an die Mutter, als sie sich noch liebten. Damals schrieb man Briefe. Und von jedem meiner drei ein Bild: Als Kindergartenkinder wussten sie, dass ich Windmühlen mag. Ich grabe tiefer und zieh ein altes Schulheft raus. Warum hab ich das aufgehoben? Ein einsamer Aufsatz steht da drin. Darunter eine rote Schrift, die mir vage vertraut vorkommt. Mich wundert, dass ich das lesen kann, wo mir sonst die Buchstaben vor den Augen verschwimmen: „Du versprühst hier ein wahres Gedankenfeuerwerk, hast aber leider den Faden verloren. Drei Minus.“ Einen Moment lang spür ich, wie ich beim Schreiben geglüht hab. Und dann das: Drei Minus. Den Faden hab ich schon lang verloren. Ich leb im Stift. Manchmal zieh ich ihn aus dem Ärmel meiner roten Bluse. Das soll ich bitte lassen, sagt Schwester Anna, sonst bleibt am Ende von der schönen Bluse gar nichts übrig! Egal, sage ich. Lieber eine Bluse opfern als den Faden verlieren. Drei Minus. Da hat sich jemand getäuscht: Es war besser als Drei Minus. Auch wenn da viele lose Fäden waren. Ich hab noch andere verloren. Manche haben sich an mich geknüpft, ob ich das wollte oder nicht, an andre hab ich mich von mir aus drangehängt. Gut schien es, wenn wir unsre Leben zu einem Band verwoben, das uns hielt. Da, unter dem Papier, da ist das alte Band, das Großes hoffen ließ. Wir waren jung. Wir wollten viel. Mein Leben nahm das deine in sich auf und umgekehrt, und alle losen Fäden wurden sorgfältig entwirrt und fest verknotet. Dann war das Band ein dicker, starker Strang. Jetzt zieh ich einen seidnen Faden nach dem andern raus. Mein Lehnstuhl knarrt dabei im Rhythmus meines Lebens.
Mein Sessel knarrt. Dabei ist er ganz neu – du nennst ihn Ungetüm und warst dagegen, dass ich sowas kaufe. Natürlich ist er viel zu groß für dieses Zimmer hier im Wohnheim, aber – ich fühl mich wohl in ihm. Das aus edlen Fäden gewirkte Seidenband, das du mir aus Indien mitgebracht hast, liegt bunt und kühl und angenehm in meiner Hand. Du sagst, du willst nie mehr so lange von mir weg sein. War es so lang? Es ist Zeit, sich zu binden. Mir ist es recht, wenn du geschäftlich verreist bist. Ich bin auf der Suche. Du bist etabliert. Schon lange wartest du auf mich und darauf, dass ich die Fäden, die in unser Band nicht passen, kappe. Ich kann das nicht. Doch kann ich anders, ohne dieses Kunstwerk zu zerstören? Es spricht mich an, ich habe einen ausgeprägten Sinn für alles, was ästhetisch ist. Ich fühl mich schmierig, wenn ich ungeduscht bin. Schnell dusch ich, wenn du kommst. Wir passen gut zusammen, du und ich, das sagen alle. Ich bin so alt wie du – und lange nicht so weit. Jetzt sind wir auf der Zielgeraden, sagst du, dein Chef will dich befördern und ich bin doch auch bald fertig mit meinem endlos langen Studium. Ob ich denn keine Kinder wolle? Ja, doch. Ich will so viel. Und alle sagen, so einen wie dich werd ich im Leben nicht mehr finden. Worauf ich denn noch warte? Das weiß ich nicht, doch schau ich täglich in den Spiegel und frage mich, ob ich die bin, die du da siehst. Du ziehst und zerrst an mir. Ein buntes Haarband soll ich für dich tragen. Dabei ist‘s mir am liebsten, meine Haare flattern, wohin der Wind sie weht. Auf einmal – hab ich diese Schere in der Hand. Das kunstvolle Band spreizt sich zwischen drei unberingten Fingern. Dann schneide ich es durch und atme schnell und schwer, weil nichts mehr ist, wie es war. Mein Sessel knarrt befreit.
Mein Lehnstuhl knarrt und ich fühl mich geborgen. Nach jedem Schnitt, den ich beherzt genug gesetzt hab, hat jeder Faden, der verloren schien, andre gefunden und umspielt, umworben. Nie war ich fadenscheinig, nein, ich war zuhaus in einem Netz, das sich entsponnen hat jenseits von allzu schönen Mustern. Jetzt bin ich hier mit meinen Schätzen, bin im Fadenkreuz der Zeit, endlich am Ziel. Noch einmal hör ich meinen Lehnstuhl knarren.
(2018)
In: Zeit – Anthologie – Kurzgeschichtenwettbewerb 2018 (Literareon im Herbert Utz Verlag, 2018). ISBN 978-3-8316-2099-9 – bestellbar unter https://www.literareon.de/catalog/book/42099