Das Wort, der Schulmeister und das Kind
Es war einmal ein Wort, das war sehr arm dran, und besonders in der Weihnachtszeit, denn während alle Menschen in ihren warmen Stuben saßen und eine Kerze nach der anderen anzündeten, musste es draußen in den Gassen herumirren. Es schaute sehnsüchtig durch die Fenster und immer einmal wieder versuchte es, an eine Tür zu klopfen und um Einlass zu bitten, doch immer bekam es die gleiche Antwort: „Wir kennen dich nicht, bist ein fremder Wicht, drum suche dir woanders ein Licht!“ Das Wort war sehr verzweifelt, da hörte es von einem alten Schulmeister, von dem die Leute sagten, dass er sehr gut zu Wörtern sei. Der Schulmeister wohnte draußen am Dorfrand in einem kleinen Häuschen. Schon von weitem sah das Wort, dass die Vorhänge nicht zugezogen waren, und als es näher kam, schaute es neugierig zu den Fenstern hinein: Das Innere des Häuschens bestand hauptsächlich aus einem großen Raum, dessen Wände bis unter die Decke voller Bücherregale waren. Es gab nur zwei Lücken für Tür und Fenster! Wahrhaftig, dieser Mensch da drinnen wusste offensichtlich mit Wörtern umzugehen, und das arme Wort schöpfte Hoffnung, von dem Schulmeister eingelassen zu werden. Es klopfte beherzt an die Tür und hörte bald drinnen ein langsames Schlurfen. Die Tür öffnete sich und ein alter Mann mit langem weißem Bart stand vor dem Wort. „Was willst du?“, wollte er wissen. „Ich bin ein armes Wort, das ein warmes, helles Plätzchen sucht in dieser kalten, dunklen Zeit. Bitte, lass mich ein!“ Der Schulmeister schaute das Wort angestrengt an und runzelte die Stirn: „Ich kenne dich nicht, bist ein fremder Wicht, drum suche dir woanders ein Licht!“ Schon wandte er sich zum Gehen, da drehte sich der Schulmeister noch einmal um: „Was ist geschehen, dass dich niemand mehr kennt?“ „Ein Schüler hat mich so geschrieben,“ sagte das Wort, „wie ich jetzt aussehe. Bevor es jemand bemerkt hat, dass ich nicht richtig bin, bin ich aus dem Heft gefallen, und jetzt will niemand mich kennen!“ „Du bist auch nicht zu erkennen“, sagte der Schulmeister, „aber ich gebe dir einen Rat. In meiner jüngsten Klasse gibt es ein Kind, das manchmal Wörter schreibt, die ich nicht erkenne. Dann verändert es die Wörter so lange, bis sie richtig sind. Das Kind wohnt dort drüben!“ Der Schulmeister zeigte auf ein Haus, das ein wenig vom Dorf entfernt lag. Sogleich machte sich das Wort auf den Weg. In einem kleinen Stübchen oben im Giebel brannte noch Licht. Das Wort dachte sich schon, dass es keinen Sinn hatte, an die Tür zu klopfen, deshalb flog es gleich zum Giebelfenster: Und richtig, da lag ein Kind in seinem Bettchen und las. Das Wort klopfte ganz leise und vorsichtig an das Fenster, um das Kind nicht zu erschrecken, und bat um Einlass. Doch das Kind sagte: „Ich kenne dich nicht, bist ein fremder Wicht, drum suche dir woanders ein Licht!“ Schon wollte es sich wieder seinem Buch zuwenden, da fing das Wort draußen vor dem Fenster an zu tanzen und zu singen. Die Buchstaben flogen nur so, wechselten ständig ihre Position und standen keinen Moment still. Das Kind wurde neugierig, ging ans Fenster und machte es einen kleinen Spalt weit auf, um die Musik besser zu hören, aber nur so wenig, dass ein ganzes Wort nicht durchgekommen wäre. Jedoch flogen einzelne Buchstaben aus dem Zimmer, die in einem aufgeschlagenen Schreibheft standen, hinaus durch den Spalt und schlossen sich dem Wort an – Buchstaben tanzen nun einmal für ihr Leben gern! Die Buchstaben drehten und wendeten sich, wechselten ständig ihre Position und standen keinen Moment lang still, da erkannte das Kind plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde ein Wort in diesem Gewirbel. „Halt!“, wollte es rufen, doch es war schon zu spät, nichts war mehr zu sehen außer Buchstabengewirr. Doch jetzt war die Neugier des Kindes vollends geweckt und es öffnete das Fenster weit, um die Buchstaben einzulassen. Es musste fast eine Viertelstunde lang warten und im Zimmer wurde es ziemlich kalt, bis die Buchstaben alle ausgetanzt hatten und alle miteinander zu dem Schreibheft flogen, aus dem einige von ihnen gekommen waren. Das Kind knobelte die ganze Nacht und schrieb die Buchstaben mal in dieser, mal in jener Reihenfolge auf, ließ mal die einen und mal die anderen weg. Schließlich schlief es erschöpft an seinem Schreibtisch ein. Als die Mutter am nächsten Morgen kam, um es zu wecken, stand ein wunderbares Wort im Schreibheft, das ihr in seinem vollen Glanz entgegenstrahlte. Eigentlich wollte sie schimpfen, weil das Kind nicht im Bett war, doch das Wort stimmte sie freundlich. „Zeit für die Schule“, sagte sie nur und weckte das Kind vorsichtig auf. In der Schule waren die Kinder sehr aufgeregt an jenem Morgen. Alle hatten wochenlang fleißig Wörter gesammelt und nun sollte das schönste Wort von allen gefunden werden. Alle Wörter wurden an der Tafel gesammelt und am Ende gab es zehn, die in die engere Wahl für das schönste Wort kamen. Das Kind aus dem Haus, das ein wenig vom Dorf entfernt lag, hatte sich bisher zurückgehalten und meldete sich nun erst ganz zum Schluss: Geschwind stand es auf und schrieb sein Wort an die Tafel. Im Klassenzimmer wurde es so still vor Staunen, dass man die Schneeflocken draußen fallen hörte: So schön war das Wort! Und das Kind sagte: „Das ist ein Wort, ihr erkanntet es nicht, war ein armer Wicht, drum suchte es bei mir sich ein Licht!“ Und das Wort blieb bei dem Kind und die beiden wurden sehr, sehr glücklich miteinander.