Es freute sich. Jedes Jahr an diesem Tag wachte es auf und freute sich.
Wenn das erste Morgenlicht fahl und noch viel zu schwach durch den
Vorhang lugte, dann wusste es, dass es noch viel zu früh war, und es
machte gehorsam noch einmal die Augen zu. Vorfreude sei die schönste
Freude, hatte ihm die Schwester einmal gesagt, aber es wusste nicht so
recht, was das sein sollte, „Vorfreude“. Jede Art von Freude sollte doch
etwas Schönes und Behagliches sein – diese Spannung dagegen, die das
Kind jetzt verspürte, war schwer zu ertragen, und deshalb wollte es
lieber noch einmal zurückfallen ins traumlose Nichts. Ganz bestimmt war
es zu früh, schon im Morgengrauen daran zu denken, ob Onkel Walter sich
wohl daran erinnerte, dass sie sich ein Mühlespiel gewünscht hatte. Er
hatte es ihr bei ihrem letzten Besuch beigebracht, dieses Spiel, und er
hatte sich so gefreut über die schnellen Fortschritte der kleinen
Lernbegierigen, dass er sie gefragt hatte, ob sie auch gern so ein Spiel
hätte. Mit leuchtenden Augen hatte sie genickt. Jetzt leuchteten ihre
Augen wieder, obwohl sie doch schlafen wollte, sie leuchteten so, dass
die Lider nicht geschlossen bleiben wollten: Heute war ihr Geburtstag…!
Als sie die Mutter leise aufstehen und an ihrem Zimmer vorbeigehen
hörte, war sie ganz sicher, dass Onkel Walter das Mühlespiel nicht
vergessen haben konnte, denn er kam doch jedes Jahr zu ihrem Geburtstag,
zusammen mit Tante Ilona. Da hielt sie die verheißungsvolle Stille
nicht mehr länger aus. Flink hüpfte sie aus dem Bett und sprang
leichtfüßig in die Küche, wo die Mutter vor einer einsamen Tasse Kaffee
saß. „Guten Morgen, Geburtstagskind“, sagte sie müde lächelnd. Geduldig
ließ das Kind gratulierendes Händeschütteln über sich ergehen und ging
dann ohne jede Mahnung ins Badezimmer, um sich zu waschen. In dem großen
Spiegel über dem Waschbecken grüßte es ein vorsichtig verhaltenes
Lächeln. Es wusste nicht, dass es wusste: die dabei entstehenden
Fältchen um den Mund waren die der Mutter. Es wusste nicht, was es war,
das es die Augen schließen machte und das es gerade und ernst in den
Spiegel schauen ließ, als sie sich wieder öffneten. Keine Linien, keine
Falten, keine Verbindung zu dem, was das Kind einmal barg. Nur ein
Kindergesicht, unschuldig und blank. Es schnitt eine Grimasse, um sich
von der Maske des Spiegelbildes loszureißen, und es fing an, wild und
schäumend mit Wasser und Seife zu hantieren.
Schließlich verstummte die plätschernde Geräuschkulisse und das Kind
fühlte sich sauber und bereit für den Tag. Es lauschte in Richtung der
Küche, doch alles schien still. Wo war das fröhliche Klappern, das ein
Teil seiner Freude sein sollte? Auf leisen Sohlen schlich es sich durch
die Wohnung und linste durch einen Türspalt ins Wohnzimmer, wo die
Mutter schon gestern den kleinen Tisch aufgestellt hatte, von dem es
wusste, es sollte sein Geburtstagstisch sein. Fast fürchtete es stille
Leere auch dort, doch der Tisch war geschmückt mit einem bunten
Tischtuch und einem großen Blumenstrauß, und im selben Moment erklangen
aus der Küche bekannte Radiotöne. „Mami, Mami, ich freu‘ mich“, rief
es, doch es wusste nicht, ob sie hörte.
Am Vormittag war die Küche erfüllt von anderen Düften als dem des frühen
Kaffees und von träger Geschäftigkeit. Das Kind saß und schaute, wie
die Mutter kochte und buk. Einen Schokoladenkuchen mit viel Guss hatte
es sich gewünscht, doch die Mutter machte eine Schwarzwälder Kirchtorte.
Das gehörte sich so für einen runden Geburtstag erklärte sie, und sie
fügte nachdenklich hinzu: „Du bist jetzt ein großes Mädchen mit deinen
zehn Jahren.“ Das Kind spürte, wie Stolz es erfüllte, und vergaß den
Schokoladenkuchen: Es war alt genug, um einen runden Geburtstag zu haben
und für eine Schwarzwälder Kirchtorte zu sorgen. Vielleicht war es
damit fast genauso wichtig wie die fünfzigjährige Tante oder die
siebzigjährige Oma. „Komm, du kannst die Schüssel auslecken“, sagte die
Mutter. Das Kind sah, es war Sahne, und leckte sich schon im nächsten
Moment weiße Finger. „Was ist das, warum schmeckt die Sahne so komisch“,
fragte es. „Kirschschnaps“, entgegnete die Mutter. „Eigentlich nichts
für dich. Aber es ist ja nicht viel, und du hast Geburtstag.“ Enttäuscht
von der schnapsigen Sahne war das Kind wieder erinnert: „Und mein
Schokoladenkuchen?“ Die Mutter seufzte. „Ich hoffe, Marianne kommt bald
und kann helfen.“
Marianne, die Schwester. Sie war so viel älter, unvorstellbare fünfzehn
Jahre älter. Schwester. Erst in der Schule hatte das Kind eine neue
Bedeutung des Wortes gelernt: jemand, der mit einem spielt. Marianne war
anders. Schon lange wohnte sie am anderen Ende der Stadt, in einem
Hochhaus mit zwölf Stockwerken im zweiten Stock, schon seit das Kind
noch zu klein war, um den entsprechenden Knopf im Aufzug zu erreichen.
Manchmal war das Kind gerne dort, manchmal, wenn Helmut nicht da war,
durfte es dort auf Mariannes altem Xylophon spielen. Helmut war
Mariannes Mann und er mochte die Töne des Kindes nicht besonders.
„Hallo, kleiner Fratz“, war sein üblicher Gruß für sie, wenn sie kam,
und sie mochte ihn nicht. Fragend schaute sie ihn an, wenn er kam, dann
das Xylophon. „Oh, spiel ruhig weiter“, lachte er. Zögernd wiederholte
sie ihre Lieblingstöne – sie schlug auf das rote, das weiße und das
schwarze Plättchen -, doch ihr Klang war plötzlich trüb geworden.
Ungeduldig versuchte das Kind noch einmal, den vertrauten Wohllaut des
Dreiklangs herzustellen, doch er misslang. Verstimmt legte es die
Klöppel beiseite. Noch im selben Moment hob Marianne das Xylophon auf
und steckte es zurück in seine verblichene Schachtel. „Sie hat schon den
ganzen Nachmittag damit gespielt“, erklärte sie ihrem Mann, „es wundert
mich nicht, dass sie genug davon hat.“ Das Kind wurde unruhig am Ende
eines solchen Nachmittags bei der Schwester. Wenn es dann selbst für
das Kinderprogramm im Fernsehen kein Interesse mehr zeigte, bot Helmut
mit selbstgefälligem Lächeln auf der Stirn früher oder später an, das
Kind heimzufahren zur Mutter. Und wenn es dann schließlich aus seinem
Auto kletterte und er es so versorgt wusste, sagte er immer: „Besuch uns
bald wieder, kleiner Fratz.“ Doch sein Lächeln stand ihm zu hoch im
Gesicht, es erreichte nie die Tiefe seines Mundes, und das Kind glaubte
ihm nicht.
Marianne kam erst nach dem schnellen Mittagessen, das das Kind mit der
Mutter allein verzehrte. Köstlich duftend stand der fertige
Schokoladenkuchen in der Küche, er sollte abkühlen. Schnuppernd trat
Marianne in die Wohnung und fragte erst nach den Kuchen und dann nach
der Schwester, dem Geburtstagskind. Es bekam einen großen Malblock und
neue Wasserfarben für die Schule, und es freute sich, als es diese
ersten Geschenke auf seinen Geburtstagstisch legte, nicht zu weit an den
Rand, damit sie nicht einsam und verloren aussahen auf weiter Fläche,
und doch so, dass genügend Platz blieb für alles, was es sich erhoffte.
Das Mühlespiel sollte den Ehrenplatz ganz in der Mitte erhalten.
Das Kind erinnerte sich: In dem Geburtstagsbilderbuch, das längst
vergilbt war und das die Mutter neulich für eine kleinere Kusine
eingepackt hatte, da war es immer so, dass die Glocke nie aufhörte zu
läuten, nachdem das Geschenk des ersten Gastes ausgepackt war. Marianne
konnte doch wohl als Gast zählen? Ob, das Leben war so anders, als es in
Büchern beschrieben wurde. Warum war es so anders, warum konnte jetzt
nicht die Glocke läuten. Das Kind hörte, wie sich die Mutter und die
Schwester in der Küche halblaut unterhielten. „Dann sag ihm doch einfach
nichts davon“, hörte sie die Mutter sagen. „Man muss so manches für
sich behalten im Leben.“ Und die Schwester seufzte. Das Kind seufzte
auch. Die Glocke läutete immer noch nicht.
Die alte Uhr im Wohnzimmer schlug mit dröhnenden Schlägen drei Uhr, und
kaum war der letzte Schlag verhallt, da klingelte es. Das Kind
unterdrückte den Impuls aufzustehen und zur Tür zu rennen, die Mutter
stand schon im Flur und hatte den Türöffner gedrückt, und so blieb es
gespannt sitzen. Es saß im Schneidersitz auf dem Teppich vor dem
Geburtstagstisch und sah doch über den Tisch hinweg aus dem Fenster in
die Wolken. Schließlich kamen Schritte und Stimmen näher, und einen
Moment lang saß das Kind wie erstarrt: Sie sollten nicht kommen, sie
würden die reine Erwartung zerstören, es würde nie wieder sein, was es
war, ein Kind, das an seinem Geburtstag auf seinen Geburtstag wartet. Es
würde Geburtstag haben. Es würde das Geburtstagskind sein müssen, das
sie sehen wollten.
Es war Tante Ursula, sie war immer pünktlich, und von ihr, so viel
wusste das Kind, war kein Spiel zu erwarten. Es wollte ja auch nur ein
Mühlespiel, und Onkel Walter war noch nicht da. Also konnte man sich
einstweilen freuen über die praktischen Dinge, die Tante Ursula immer
schenkte, oder zumindest schien Tante Ursula sie praktisch zu finden:
einen neuen Schal im Frühling für den kommenden Winter, und einen Karton
voller Seife, die nach Kamille roch und bestimmt für die nächsten fünf
Jahre reichen würde. Das war dann praktisch. Man brauchte fünf Jahre
lang keine Seife einzukaufen. Tante Ursula arbeitete in einem großen
Supermarkt, den das Kind gut kannte.
Was war es diesmal? Das Kind schaute der Tante bei der Begrüßung nicht
ins Gesicht und wurde deswegen von der Mutter zurechtgewiesen. Dabei
hatte es doch nur die Augen niedergeschlagen, um von den vielen guten
Wünschen der Tante nicht erdrückt zu werden: Es solle immer brav sein
und fleißig, und die Tante wünsche ihm, es solle ein anständiger Mensch
werden… Gehorsam blickte es auf in ein Gesicht, dessen strenge Züge es
keine Hilfe erwarten ließen. Es wollte lachen an seinem Geburtstag, man
musste doch fröhlich sein, aber vielleicht musste man erst brav und
anständig werden, bevor man lachen durfte. Strenge Menschen fühlten sich
oft ausgelacht, das hatte das Kind schon gelernt. Das Geschenk war
nicht eingepackt: ein rosa Übertopf für eine Zimmerpflanze, darin
Süßigkeiten. Die Schwester war entzückt und ging gleich ins
Kinderzimmer, um zu sehen, welche Pflanze am besten passen würde. Das
Kind öffnete eine Bonbontüte. „So beherrsch dich doch“, sagte die
Mutter, die den missbilligenden Blick der Tante gesehen hatte. „Es gibt
doch gleich Kaffee und Kuchen, Süßes genug.“
Onkel Walter war immer noch nicht gekommen. Stattdessen kamen die beiden
jüngeren Schwestern der Großmutter, der Mutter ihres Vaters, den das
Kind nie gekannt hatte. Seit die Großmutter tot war, nahmen die
Schwestern ihre Rollen als stellvertretende Großmütter sehr wichtig, wo
das Kind doch schon keinen Vater hatte und auch keinen stellvertretenden
Vater. Einen Vater konnte man nicht vertreten, das kam gar nicht in
Frage, das wusste das Kind. Es erinnerte sich an düstere
Winternachmittage mit grauem Schneetreiben vor dem Fenster, die es auf
dem Schoß der Großmutter verbracht hatte, vor langer Zeit, und die
Großmutter hatte oft gesagt, es wolle doch keinen Stiefvater, oder. Wenn
es dann brav und still den Kopf schüttelte, streichelte ihm die
Großmutter schützend übers Haar. Manchmal fehlte die Großmutter dem
Kind. Manchmal hatte es sich aber auch gewünscht, damals, als die
Großmutter noch lebte, sie würde für immer schweigen, denn immer wieder
legte sie dem Kind ans Herz, es müsse jetzt besonders lieb sein zur
Mutter, die doch keinen Mann mehr habe, sonst wolle die Mutter
vielleicht einen neuen Mann, der besonders lieb zu ihr sei, und sie
wolle doch keinen Stiefvater… Es war schwer, immer lieb zu sein zur
Mutter, und auch noch besonders. Die Mutter war traurig in jener Zeit,
und das Kind gab sich Mühe, doch die Mutter blieb traurig, und dann
wurde das Kind manchmal wütend vor Hilflosigkeit und wusste doch, das
durfte man nicht, man musste es noch und nochmal versuchen und besonders
lieb sein. Die Zeit verging und die Mutter blieb traurig. Als sie
einmal nicht so traurig war wie sonst, hatte sie das Kind gefragt, ob es
ihm gefallen würde, einen netten Onkel zu haben, der es jeden Tag
besuche. „Ich will keinen Stiefvater“, hatte das Kind geantwortet. In
der folgenden Nach hörte das Kind die Mutter weinen, und es wusste,
seine Antwort war wohl nicht besonders lieb gewesen, wenn die Mutter so
weinen musste. Am nächsten Morgen wollte es der Mutter sagen, dass man
es ja vielleicht doch versuchen konnte mit dem netten Onkel, schließlich
hatte die Großmutter nichts gegen Onkel gesagt, und es sollte doch
besonders lieb sein zur Mutter. Es wagte ein schüchternes „Ich hatte
noch nie einen Onkel“, und es hoffte, die Mutter würde verstehen. Doch
die Mutter antwortete nur mit einem kurzen „Ist schon gut“ und wandte
sich schnell ab. Natürlich hatte das Kind damals nicht an Onkel Walter
gedacht, aber Onkel Walter war eigentlich gar kein richtiger Onkel. Nur
ein sehr entfernter Verwandter der Mutter.
„Sag guten Tag zu Tante Lina und Tante Paula“, wies die Mutter das Kind
an, als sie die beiden Großtanten ins Zimmer führte. Das Kind blickte
von einer zur anderen und wieder zur einen. Es erinnerte sich daran,
dass es früher nie gewusst hatte, welche der beiden Tanten es nun vor
sich hatte, wenn die Wohnungstür unter der der Großmutter aufging und
ein blitzendes Brillengesicht sie in einem nach Bohnerwachs riechenden
Flur begrüßte. Nur gut, dass das Kind jetzt beide vor sich hatte und die
bebrillten Gesichter vergleichen konnte, das von Tante Paula war ein
wenig rundlicher, das hatte es durch lange Beobachtungen herausgefunden.
Brav gab das Geburtstagskind erst der einen und dann der anderen Tante
die Hand und begrüßte sie mit ihren richtigen Namen. Die beiden
strahlten. Das Kind sei so viel älter und reifer geworden im letzten
Jahr, sagten sie, und so wohlerzogen. Zur Belohnung bekam das Kind von
jeder Tante ein Kuvert, es solle sich etwas kaufen, oder noch besser
sparen. Es habe sich wirklich sehr verändert, das Kind. Die Mutter
lächelte müde und warf ihrem Kind einen beinahe verschwörerischen Blick
zu. Wir wissen, dass sich nie viel verändert, bedeutete der Blick.
Vielleicht hätte der Blick etwas ändern können, wenn nicht so viel
Resignation in ihm gewesen wäre.
Als das Gespräch am Kaffeetisch schon in vollem Gange war, war Onkel
Walter immer noch nicht gekommen. Außer Marianne und Tante Ursula und
Tante Lina und Tante Paula waren nur noch die alte Nachbarin und
Thaddäus erschienen.
Die alte Nachbarin hatte früher manchmal auf das Kind aufgepasst, wenn
die Mutter weg musste und es nicht zur Großmutter bringen wollte. Die
Großmutter mochte deswegen die alte Nachbarin nicht, sie vermutete immer
eine Verschwörung. Dann war die alte Nachbarin zu alt geworden zum
Aufpassen und das Kind auch. Nur zu seinem Geburtstag kam sie immer und
brachte jedes Mal ein Paar selbstgestrickter Socken mit. Das Kind wuchs
ja noch, und so konnte es ein neues Paar Socken zum Geburtstag immer gut
gebrauchen. Und es war spannend, welche Farbe und welches Muster es
diesmal geben würde. Die Socken waren niemals gleich, und die Nachbarin
gab immer gut acht, dass das Kind die jeweils entstehenden Socken nie
vor seinem Geburtstag zu sehen bekam, auch wenn seine Besuche in der
Nachbarwohnung vor dem entscheidenden Tag meistens häuften.
Thaddäus wollte in diese Geburtstagsgesellschaft nicht so recht passen,
und doch wurde er von allen gern gesehen und wurde mit den besten
Kuchenstücken verwöhnt. Es konnte es mit den Tanten. Er fragte nach
ihren Beschwerden und nickte verständnisvoll, wenn von Rheuma und
Arthritis die Rede war. Sie mochten ihn, auch wenn er anders war, denn
er gab ihnen das Gefühl, sie seien ungeheuer achtenswert. Keiner wusste,
was Thaddäus eigentlich tat, aber man fragte ihn nie. Das war
erstaunlich, wenn man bedachte, dass doch alle der Überzeugung waren,
man müsste etwas Anständiges tun im Leben. Nur die alte Nachbarin blieb
still, wenn Thaddäus mit den alten Frauen scherzte. Das Kind bemerkte,
dass er Schokoladenkuchen auch lieber mochte als Schwarzwälder
Kirschtorte. Er vertrage so viel Schnaps nicht, erklärte er lachend, und
dem Kind wurde er dadurch sympathisch, auch wenn er sie noch gar nicht
angeschaut hatte. Thaddäus hatte auch kein Geschenk mitgebracht, aber
Thaddäus brauchte auch kein Geschenk zu bringen, denn jeder wusste, dass
er ein armer Student war, auch wenn ihn Onkel Walter, der sein
richtiger Onkel war, unterstützte. Tante Ursula fand das sehr großzügig
von Onkel Walter, auch wenn er sonst ein sehr merkwürdiger Verwandter
von ihr sei. Das Kind verstand nicht, warum Tante Ursula nicht auch mit
Onkel Walter verwandt war. Das Rätsel blieb ungelöst und das Urteil über
Onkel Walter und Thaddäus bestehen. Thaddäus hatte Tante Ursula eine
besonders gute Hühneraugensalbe empfohlen und sie schob ihm dafür noch
ein Stück von der Schwarzwälder Kirschtorte hin, auch wenn er es
eigentlich gar nicht wollte. Dem Kind tat Thaddäus sehr leid, als es
zusah, wie er essen musste.
Die Glocke schlug wieder und das Kind wusste nicht, was. Es hatte
aufgehört, die Stunden zu zählen. Es sah, wie die Mutter einen
bedenklichen Blick auf die Uhr warf. Vielleicht würde Onkel Walter
überhaupt nicht kommen. Der Geburtstagstisch hatte sich gefüllt, doch
der Platz für das Mühlespiel blieb leer. Es gab nichts zu spielen, es
gab nichts zu tun.
„Und dann spielen sie schon am frühen Morgen Mensch-ärgere-dich-nicht“,
sagte Tante Lina. Das Kind horchte auf. Wovon war die Rede? Wer spielte,
und schon früh am Morgen? „Wirklich, ich frage mich, wie die beiden
sich die teure Wohnung leisten können, wo doch nur sie halbtags aus dem
Haus geht. Siegfried sagt, sie arbeite im Krankenhaus und die beiden
seien sehr nett, nun ja, es sind seine Mieter, nicht meine…“ „Aber eine
Zumutung ist es doch“, sagte Tante Paula, „wie die zwei halbnackt auf
dem Balkon liegen und …“ „Schschsch, das Kind, unterbrach Tante Lina.“
„Aber unverheiratet. Das ist ja heute aus der Mode, das Heiraten.“
„Schaut doch weg, wenn ihr es nicht sehen wollt“, sagte die Mutter
leise. „Ich werde doch wohl noch aus dem Fenster schauen dürfen?“,
brauste Tante Paula auf. „Schon gut, jedem das seine“, beschwichtigte
Tante Lina. „Aber Mensch-ärgere-dich-nicht gleich nach dem Frühstück und
mitten unter der Woche. Manche Leute leben eben auf Kosten anderer.“
„Vielleicht arbeiten sie ja abends“, sagte das Kind, aber niemand hörte.
Niemand schien das Geburtstagskind zu sehen und zu hören, obwohl es
ganz anwesend war. Es schaute sich hilfesuchend um, doch die Mutter
hielt den Blick gesenkt, und die Schwester war schon wieder dabei, sich
über ihre arbeitslose Schwägerin zu ereifern, die doch einfach nur nicht
arbeiten wolle. Thaddäus schaute geistesabwesend aus dem Fenster. Man
hatte seine Stimme nicht mehr gehört, seit das Gespräch von den
gesundheitlichen Problemen des Nachbarn auf die Lebensgewohnheiten
seiner Untermieter übergegangen war. Was war so schlecht an
Mensch-ärgere-dich-nicht nach dem Frühstück? Vielleicht war es nicht so
interessant wie Mühle. Aber warum durfte man morgens nicht spielen, wenn
man nichts Besseres zu tun hatte? Die Mutter schaute morgens manchmal
fern, seit sie abends bis spät in einem Waschsalon arbeitete, aber das
sollte es wohl lieber für sich behalten. „Tante Ursula geht an ihrem
freien Tag morgens spazieren“, sagte das Kind. Das wusste es aus den
letzten Ferien. Diesmal hörten alle. Tante Ursula wurde rot. „Ich geh
einkaufen“, sagte sie, „nur einkaufen. Man hat doch dies und jenes zu
erledigen. Nun ja, und beim Rückweg ein kleiner Umweg durch den Park…
Man muss dich doch auch mal was gönnen. Ihr Kinder wisst ja nichts von
dem harten Leben, das wir früher hatten!“ Das Kind wusste nur etwas von
dem fremden Mann, der immer seinen Hund ausführte, wenn Tante Ursula
Enten fütterte im Park. Sie schienen sich gut zu kennen. Doch es blieb
lieber still. Was wusste es schon. Und weil es ihm so gut ging, zu gut,
wie die Tante manchmal bemerkte, wenn sie ihm eine Tüte Gummibärchen
gekauft hatte, durfte es nichts sagen und konnte es nichts sagen.
Da klingelte es. Es war Onkel Walter, der der Mutter noch unter der Tür
zuflüsterte, Ilona sei am Morgen in die Klinik eingeliefert worden und
es gehe ihr sehr schlecht. Dann wandte er sich mit einem mühseligen
Lächeln dem Kind zu, das sich an ihn geschmiegt hatte. „Alles Gute,
Geburtstagskind. Tut mir leid, dass es mir nicht gereicht hat, dir ein
ordentliches Geschenk zu kaufen. Hier“, und aus Onkel Walters Geldbeutel
kam ein weiterer Geldschein, den man ausgeben oder sparen konnte, „kauf
dir selber was.“ Das Kind schluckte und bedankte sich mühsam. Man
musste sich doch freuen an seinem Geburtstag. Aber so würde es bestimmt
zu keinem Mühlespiel kommen. Und Onkel Walter war heute nicht Onkel
Walter. Ilona war seine Frau, seine zweite, wie Tante Ursula ihr erzählt
hatte. Dabei war die erste nicht etwa gestorben, und Tante Ursula
schien das nicht richtig zu finden. Onkel Walter war heute anders, weil
er sich Sorgen machte um seine Frau. Das Kind schluckte noch einmal.
„Tränen?“, fragte Onkel Walter betroffen. Dann sagte er nichts mehr und
hielt es nur ein paar Momente lang fest, bevor er es an der Hand nahm
und zurück ins Wohnzimmer führte, wo er eine allgemeine Begrüßung in den
Raum warf und das Kind dann zu Thaddäus brachte mit der Bitte, es ein
wenig aufzumuntern, schließlich habe das Mädchen Geburtstag.
Thaddäus hatte versucht, das Kind am großen Tisch in ein kleines
Gespräch zu verwickeln, aber das ging nicht, weil es immer nur zu hören
schien, was Tante Ursula und Tante Lina und Tante Paula zu sagen hatten.
Ob sie nicht ein Kind wolle, hatten sie Marianne gefragt, und Marianne
hatte die Mutter verzweifelt angeschaut. Die Mutter hatte nur still den
Kopf geschüttelt.
Jetzt war das Kind mit Thaddäus im Kinderzimmer. „Komm, zeig mir deine
Puppen, Geburtstagskind“, sagte er in einem Tonfall, der ein wenig zu
aufmunternd klang. „Ich bin kein Kind,“ brach es aus dem Kind heraus,
„und ich spiele nicht mehr mit Puppen. Ich bin schon groß!“ Thaddäus
lachte und wurde gleich wieder ernst, als er sah, dass das Kind wirklich
wütend war. „Schon gut. Was bist du dann, wenn du groß bist?
Kindergärtnerin?“ Das Kind war verblüfft. „Nein“, sagte es. „Was dann?
Lass mich nachdenken, wie siehst du denn aus. „Ja, dass ich darauf nicht
gleich gekommen bin, du musst Balletttänzerin sein!“ „Nein“, lachte das
Kind. „Hm“, meinte Thaddäus. „Das ist ein schwieriger Fall. Hm.“ Jetzt
hatte das Kind Feuer gefangen und hängte sich an seinen Arm. „Du musst
weiterraten, rate weiter, was ich bin!“ „Friseuse.“ „Nein.“
„Fallschirmspringerin.“ „Nein!“ „Finanzbeamtin.“ „Nein!!“
„Feuerwehrfrau.“ „Nein!!!“ Das Kind lachte und lachte. Schließlich
lachte Thaddäus auch. „Ich weiß wirklich nicht, was du werden willst,
Claudia. Verrätst du’s mir?“ „Krankenschwester“, sagte das zehnjährige
Mädchen, das Claudia hieß. „Oh nein“, sagte Thaddäus, „das ist doch
langweilig, sich immer nur um anderer Leute Wehwehchen zu kümmern.
Krankenschwester willst du also werden. Ich werde Arzt, weißt du das?“
„Ist das auch langweilig?“ „Nein“, sagte Thaddäus, „kluges Mädchen.“ Er
schaute sie nachdenklich an. „Du kannst mich Taddy nennen. Alle meine
Freunde nennen mich so.“ „Das klingt wie Teddy!“, lachte Claudia und
hüpfte. Ihre Stirn war feucht und heiß, sie glühte. Endlich war ihr
Geburtstag. „Taddy, nicht Teddy“, entgegnete Thaddäus und nahm einen
schwarzen abgegriffenen Teddybären von Claudias Bett auf den Arm. „Und
wie heißt der?“ Da war es vorbei mit der Glut. „Er hat keinen Namen“,
sagte das Mädchen leise. „Er hat meinem Vater gehört und ich weiß nicht,
wie er heißt. Aber ich wollte ihm auch keinen neuen Namen geben. Man
kann doch nicht zwei Namen haben. Du kannst Teddy zu ihm, das ist kein
richtiger Name.“ „Kein richtiger Name?“, fragte Thaddäus mit gespielter
Entrüstung. „Taddy und Teddy – das sind doch sehr schöne Namen!“ Aber
jetzt lachte das Kind nicht mehr. Es nahm ihm den Teddy ab und starrte
in seine großen schwarzen Augen. Seine Pupillen weiteten sich, es schien
zu schwanken. Thaddäus konnte das Kind gerade noch auffangen, bevor es
in der Schwärze versank, und es schluchzte n seinen Armen. „Claudia,
wein doch nicht“, bat er und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Da
wurde sie still. Mit großen Augen schaute sie ihn an, als er
weiterredete.
Taddy war gegangen und das Kind saß immer noch wie benommen vor dem
Spielplan und den Figuren, die anzeigten, dass er es war, der sich
ärgern musste. Still lachte es vor sich hin, als es daran dachte, wie er
sich bei jedem Rauswurf die Haare gerauft hatte, um es zum Lachen zu
bringen, und sie hatte gelacht und gerufen: „Du darfst dich nicht
ärgern. Nein, du darfst dich nicht ärgern!“
Da kam die Mutter ins Zimmer. Das Kind erschrak und räumte hastig das
Spiel in seine Schachtel. Seine Hände flatterten und sein Herz zitterte.
„Wo ist Thaddäus?“, fragte die Mutter. „Er hätte sich ja wenigstens
verabschieden und ein bisschen Kuchen mitnehmen können, aber er hat es
ja immer eilig. Komm, die Tanten haben nach dir gefragt.“
„Wo warst du denn?“, fragte Tante Paula. „Früher durften Kinder nicht
einfach so vom Tisch aufstehen“, fügte Tante Lina hinzu. Früher, was war
früher. Die Mutter hatte ein Bild von früher, ein Bild von einem
kleinen Mädchen auf dem Schoß ihres Großvaters. Das war Tante Ursula.
Aber das Kind hatte keinen Vater. Es konnte nicht sein wie früher. Das
Kind hatte nur seinen Teddy.
„Taddy hat mit mir gespielt“, sagte Claudia. „Thaddäus? Was habt ihr
denn gespielt?“, fragte Tante Ursula, doch das Kind schwieg. „Du willst
es mir nicht sagen? Nun gut.“ Der steife Zug um ihren Mund verstärkte
sich. „Was habt ihr denn gespielt“, fragte die Mutter noch einmal, dabei
wusste sie es doch. „Nichts“, sagte das Kind, warum sagte es das, und
warum sagte es nicht einfach, es hätte sich zwar ein Mühlespiel
gewünscht, doch Mensch-ärgere-dich-nicht sei eigentlich viel schöner.
Onkel Walter unterhielt sich am anderen Ende des Tisches mit der alten
Nachbarin.
Die Tanten sagten, sie müssten gehen. Als sie sich verabschiedeten, mied
das Kind ihren Blick. Es blieb sitzen. Es begleitete niemanden zur Tür.
Es war nicht mehr Kind genug, um sich falsche Freude ins Gesicht zu
schreiben. Es war undankbar. Es war allein. Sie hatten was gegen
Mensch-ärgere-dich-nicht, und Taddy war gegangen. Das Kind versank in
Abwesenheit.
Als es wieder zu sich kam, waren auch die Schwester und die alte
Nachbarin gegangen. Onkel Walter unterhielt sich leise mit der Mutter.
Dann stand er auf, strich dem Kind übers Haar und fragte, ob es ein
schöner Geburtstag gewesen sei. „Ja“, sagte es tonlos. Onkel Walter
schaute die Mutter fragend an, doch die zuckte nur mit den Achseln. „Ich
muss gehen“, sagte Onkel Walter. „Tante Ilona wartet. Doch ich besuche
dich bald wieder.“ Das Kind sagte nichts. Es würde nicht mehr warten.
Und doch weinte es wieder, als es Onkel Walter unten auf der Straße
davongehen sah. Die Mutter sah es nicht, sie war in der Küche mit dem
Abwasch beschäftigt. Sie brauche keine Hilfe, hatte sie gesagt, das Kind
solle an seinem Geburtstagabend nicht helfen müssen, es müsse ja morgen
wieder in die Schule. Sie wollte wohl besonders lieb sein zu ihrem Kind
an seinem Geburtstag. Das musste man, auch wenn heute alles anders war
als früher.
Die Wohnung war still und dunkel geworden. Die Mutter hängte das feuchte
Geschirrtuch an den Haken und trat in das Geburtstagszimmer und knipste
das Licht an. Der Geburtstagstisch strahlte ihr entgegen. Es war auch
ein Ring mit Kerzen darauf, der zum ersten Mal im Leben des Kindes ganz
gefüllt war, und sie fühle sich zurückversetzt in eine Zeit, in der es
noch Wunder gab und Staunen. Sie hatten ja noch gar keine Kerzen
angezündet an diesem Geburtstag ihres Kindes, das war es, was fehlte.
Doch sie könnten noch glücklich sein jetzt, wo das Geschirr gespült war.
Die Mutter und suchte und fand Streichhölzer, die sie kaum mehr benutzt
hatte, seit sie einen Elektroherd hatte. Erst als sie wieder vor dem
Geburtstagstisch stand, fiel ihr auf, dass ihr freudiges Rufen nach
ihrem Kind unerwidert geblieben war. „Claudia!“, rief sie noch einmal,
und dann leise, fragend, mit sinkender Hand: „Claudia?“ Sekundenlang
wagte sie sich kaum zu bewegen. Dann gab sie sich einen Ruck und ging
von Zimmer zu Zimmer und suchte nach ihrem verlorenen Kind.
Das Kind war im Kinderzimmer, umgezogen, nach Seife riechend, im Bett
und starrte an die Wand. Es sagte nichts. Es freute sich nicht. Es
machte keinen Unterschied, ob es die Augen offen oder geschlossen hatte,
es sah immer nur, was in ihm war. Freude war Schuld, aber darüber
sprach man nicht. Sie sprachen immer nur über das, was früher war, über
eine Welt, aus der das Kind ausgeschlossen war. Es war verbannt in die
Leere der Gegenwart, ohne Leiden, ohne Freude, ausgestattet nur mit der
schrecklichen Schuld, kein richtiges Geburtstagskind zu sein. Man musste
sich doch freuen. Aber man konnte nicht zurück.
Die Mutter wollte das Kind zu sich drehen, aber sie hatte Angst vor der
Trostlosigkeit in seinen Augen. Sie sah sich selbst. Sie sah das Kind,
von dem man sagte, es habe weder Ehrgeiz noch Tatkraft. Nie tue es etwas
aus eigenem Antrieb. Man meine es ja nur gut mit ihm, doch es sei
verstockt, und nie sehe man es lachen. Dabei gehe es ihm doch so gut.
Das Alleinsein war zu schwer, um getragen zu werden. Die Mutter
schmiegte sich an das Kind und weinte leise. Welchen Widerschein hätte
das Kind auch geben können, wenn das Licht nur ein schlechter Schein
war. Wann begreifen die Menschen, dass das Andere ein Abglanz ihrer
selbst ist.
Die Tränen der Mutter waren kalt getrocknet. Das Kind drehte sich
langsam um. Mühlespiel und Marianne und Schwarzwälder Kirschtorte und
Schokoladenkuchen und Tanten und Thaddäus waren unwirklich geworden. Es
sah sich selbst. „Mami“, sagte es, „ich bin kein Geburtstagskind.“
(1991)